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Studienreise nach Glarus 2006

"Radikaler Kanton Glarus" (Tagesanzeiger), "Glarus zeigt ein Herz für eine radikale Reform" (Neue Züricher Zeitung), "Um 13.47 Uhr war nichts mehr wie zuvor" (Die Südostschweiz) und "Überraschung an Glarner Landsgemeinde" (nachrichten.ch) titelten am Montag, dem 8.Mai 2006, die schweizer Tageszeitungen - Reaktionen auf die von der Landsgemeinde in Glarus gefällte Entscheidung über die Gemeindestrukturreform in ihrem Kanton.

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Die Studienreise des Deutschen Instituts für Sachunmittelbare Demokratie e.V., geleitet von Institutsdirektor Peter Neumann, führte auch in diesem Jahr wieder zu einer der beiden letzten Landsgemeinden in der Schweiz. War man im vergangenen Jahr nach Appenzell/Innerhoden gereist, fiel die Entscheidung in diesem Jahr auf den Kanton Glarus in der Südostschweiz. Eine glückliche Wahl, wie sich herausstellte (nicht nur wegen des fantastischen Wetters), denn das Memorial der Landsgemeinde wies einige spannende Tagesordnungspunkte, die sogenannten Traktanten, auf.

Aufmerksame Beobachter der Landsgemeinde

Neben der Wahl der Richter und des Landammans, sowie der Festsetzung des Steuerfußes für 2006, ging es bei der jährlich am ersten Sonntag im Mai stattfindenden Landsgemeinde in diesem Jahr unter anderem um die Anpassung kantonaler Regelungen zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften an das Bundesgesetz und die Gewährung eines Kredits über 3,4 Millionen Franken zum Bau einer Schutzmauer gegen Steinschläge. Im Mittelpunkt der Versammlung von rund 10.000 der 40.000 Stimmbürger auf dem Zaunplatz in Glarus stand jedoch die Entscheidung über die Gemeindestrukturreform mit der Bildung von Einheitsgemeinden und der Verringerung der Zahl der Gemeinden.

Gemeindestrukturreform Glarus

Am Vortag hatte Dr. Fritz Schiesser, Projektleiter der Gemeindestrukturrreform des Kantons, die Reisegruppe im Großen Landratssaal des Rathauses empfangen und in die diffizile Angelegenheit dieser Reform eingeführt.

Dr. Fritz Schiesser, Projektleiter der Gemeindestrukturreform Glarus

Es geht dabei nicht nur um eine Gebiets- sondern auch um eine Aufgaben- und Finanzausgleichsreform, die langfristig das Institutionensystem innerhalb des Kantons verändern wird. Nachdem auf der Landsgemeinde 2005 dem Memorialsantrag zu einer solchen Reform zugestimmt wurde, bildete die Landsgemeinde 2006 nach Aussage Schiessers den „point of no return“, da nun lediglich die Lösungsvarianten abgestimmt werden konnten. Dem Regierungsrat unterstellt, hatten sechs Arbeitsgruppen unter der Leitung Dr. Schiessers an der Konzeption einer Neuorganisation des Kantons gearbeitet. Der Antrag des Landrates auf der Landsgemeinde repräsentierte das Konzept dieser Projektgruppe, die zunächst die Bildung von 25 Einheitsgemeinden aus den bisher bestehenden Tagwen, Schul-, Fürsorge und Ortsgenmeinden (Traktandum 12) und daran anschließend die Fusion zu 10 Einheitsgemeinden (Traktandum 13) vorsah. Schiesser wollte keine Prognose für Annahme oder Ablehnung dieses Antrages abgeben. Die Angst vor der Aufgabe von Autonomie, vor dem Verlust von Arbeitsplätzen in der Verwaltung und vor einer Erosion der Identität stünden gegen pragmatische und vernünftige Überlegungen der Effizienz und Praktikabilität, so Schiesser. Alle Punkte spiegelten sich in den Beiträgen der Redner vor der Abstimmung wider (nachzulesen unter http://www.glarusnet.ch/lg2006/htm).

Abstimmung über die Bildung von drei Einheitsgemeinden

Volksfeststimmung nach der Landsgemeinde

Die größte Überraschung sollte jedoch nicht allein das Votum sein. Folgte man dem Antrag des Landrates für die Schaffung von 25 Einheitsgemeinden mit dem größeren Mehr, galt es im Traktandum 13 über mehrere Vorschläge zu befinden. Verschiedene Personen sprachen sich in ihren Redebeiträgen aus oben genannten Gründen für und gegen den Vorschlag aus. Ein einzelner Bürger aus der Gemeinde Ennenda, Kurt Reifler, formulierte schließlich jenen Antrag, der in der Presse als „überraschend“ und „revolutionär“ betitelt wurde. Er beantragte zum 1. Januar 2011 nur drei Einheitsgemeinden zu bilden. Diese sollten aus Glarus Mitte (Glarus, Riedern, Netstal, Ennenda), Glarus Nord (alle Gemeinden nördlich davon) und Glarus Süd (alle Gemeinden südlich) bestehen. Unterstützt wurde der Antrag eines Dreiermodells auch von der Partei der Grünen und der Jung-Sozialistischen Partei.

Sachunmittelbare Demokratie in Theorie und Praxis

So konnten die Teilnehmer der Studienreise erleben, was sie einen Tag vorher im Seminar mit Prof. Dr. Frank Marcinkowski, Universität Zürich, gehört und diskutiert hatten. Prof. Dr. Marcinkowski machte das Thema der „Öffentlichkeit, öffentlichen Meinungsbildung und des politischen Verhaltens in der direkten Demokratie“, so der Titel seines Vortrages, als rein deutsches Thema aus, da sich Rationalität und Effizienz der Instrumente sachunmittelbarer Demokratie in der Schweizer Praxis bereits gezeigt hätten. Anhand seiner empirischen Untersuchungen in Liechtenstein konnte er die häufig vorgebrachten Argumente der Manipulation und der Überforderung widerlegen. Dies spräche nicht dafür, dass „bessere Entscheidungen“ getroffen würden, jedoch nähme die Informiertheit und Partizipationsbereitschaft der Bürger und damit die Qualität des demokratischen Prozesses zu. Er ging dabei auch auf die Demokratieform der Landsgemeinde ein und hob hervor, dass gerade unter kleinräumigen Bedingungen die Ausübung von Präsenzöffentlichkeit schwieriger sei, als in der Anonymität größerer Räume.

Seminar im wunderschönen Panoramasaal des Lihn

Prof. Dr. Frank Marcinkowski im Gespräch

Der Glarner Kaspar Marti ergänzte die Ausführungen Marcinkowskis mit eigenem Erleben, bestätigte das Problem der fehlenden Anonymität, doch führte gleichzeitig aus, dass durch die jahrhundertealte Tradition und Einübung der Landsgemeinde in Glarus „Rückrad vor Abhängigkeit“ siege. Außerdem, so Marti, würden gleichfalls parteipolitische Prädispositionen bei Sachentscheidungen vielmehr ihre Bindungskraft verlieren. Ein frühes glorreiches Beispiel sei das 1872 von Arbeitern eingebrachte Fabrikgesetz, dass eine Krankenkasse für die Arbeiter vorsah, externe Inspektionen zur Sicherheit einführte und die Kinderarbeit verbot.

Geschichte und Geschichten

Auf eben jenes Ereignis referierte am Samstagnachmittag auch Prof. Dr. Silvano Möckli, Universität St. Gallen, in seinem Vortrag zur Geschichte der Landsgemeindedemokratie in der Schweiz und machte daran sein Hauptmerkmal der sachunmittelbaren Demokratie fest: Minderheiten könnten sich gegen Eliten durchsetzen.

Vortrag im Landratssaal des Kantons Glarus; im Hintergrund Prof. Dr. Silvano Möckli

Prof. Möckli blieb jedoch nicht im 19. Jahrhundert verhaftet, sondern ging bis ins Jahr 1300 zurück. Zu dieser Zeit gab es auf dem heutigen Gebiet der Schweizer Eidgenossenschaft bereits mehrere bäuerlichen Versammlungsdemokratieen.Zurück in die Geschichte des Ortes Glarus führte die Reisegruppe wiederum Kaspar Marti. Als aktives Mitglied des Kultur aktiv e.V. Glarus zeigte der erfahrene Architekt die „kleinste Hauptstadt der Welt“ in all ihren Facetten.

Bleiglasfenster in der Stadtkirche mit dem Glarner Wappen

In der Stadtkirche, die als Hauptwerk des Historismus in der Schweiz gilt, konnte die Gruppe ein Diorama der Stadt vor dem großen Brand im Jahre 1861 sehen. Ist man dort nur mit den Augen durch Gässchen und Straßen gewandert, folgten die Teilnehmer Herrn Marti bei schönem Wetter am Bahnhof vorbei, durch den Stadtpark, zu Kirche und Gericht. Da der Stadtführer ebenfalls Laienrichter ist, blieb auch das Gerichtsgebäude am Wochenende nicht verschlossen.

„Ohne Worte“

Im holzgetäfelten, aber hellen Gerichtssaal erklärte Kaspar Marti zunächst einiges zum Rechtssystem, berichtet dann aber auch aus der Praxis als Laienrichter. In dieser Funktion gehörte er auch zu den offiziellen Honoratioren des Kantons auf der Landsgemeinde und konnte nachher beim Treffen in einem Glarner Café von den Reaktionen der Regierungsmitgleider und Parteien auf den überraschenden Vorschlag Kurt Reiflers berichten. Im Gespräch mit Kaspar Marti stellte sich am Rande außerdem heraus, dass er das idyllisch gelegene Seminar- und Ferienzentrum Lihn/Filzbach, in dem die Gruppe übernachtete, als Architekt projektiert hatte. Nur ein kleines Indiz dafür, dass diese Reise für alle eine abgerundetes Erlebnis war.

Zwei Teilnehmer beim Morgensport im Lihn

Szenenwechsel

Den Tag der Landsgemeinde beschloss man traditionell bei „Kalberwurst mit Trockenpflaumen“ in einem kleinen Bergrestaurant mit Panoramablick über die Stadt. Dieses Gericht gibt es nur an diesem ersten Sonntag im Mai. Auf der Landsgemeinde 1920 wurde sogar die Zusammensetzung der Wurst beschlossen. Seitdem muss die Kalberwurst aus 44 % Kalbfleisch, 20 % Speck, 32 % Milch und 4 % Brot bestehen.

Abend mit Blick über Glarus und angeregten Gesprächen

Auch wenn der Abend lang wurde, galt es am Montagmorgen, früh aufzustehen, denn die Reise sollte noch in die Hauptstadt der Schweizer Eidgenossenschaft gehen. In Bern empfing Prof. Dr. Pierre Tschannen die Reisegruppe des DISUD mit einem zweiten Frühstück im modernen Gebäude des Instituts für Öffentliches Recht. Nach der Stärkung verfolgten die Teilnehmer den Vortrag Prof. Dr. Tschannens zum in Deutschland unbekannten Instrument der „Totalrevision der Bundesverfassung“ mit großer Aufmerksamkeit und Interesse an Nachfrage und Diskussion.

Vortrag im Institut für Öffentliches Recht der Universität Bern bei Prof. Dr. Pierre Tschannen

Prof. Dr. Tschannen war gern bereit, dabei auch auf die Entwicklung der Volksrechte in der Schweiz genauer einzugehen und arbeitete in seiner Präsentation, die er den Teilnehmern zur Übersicht auch als Dokument zur Verfügung stellte, besondere Charakteristika heraus. Allen Gäste gab er darüber hinaus sein im Stämpfli-Verlag erschienenes Lehrbuch zum Schweizer Staatsrecht als Geschenk mit auf den Weg.
Bevor die Gruppe am Nachmittag noch das Bundeshaus besuchte und dort nach einer kurzen Führung für eine Stunde die Sondersession verfolgte, hatte Sie gegen Mittag noch einen geführten Stadtrundgang durch das UNESCO-Welterbe gebucht, nun inzwischen leider im Regen. Für einen kleinen Einkaufsbummel durch das schöne Bern blieb zu guter Letzt schließlich auch noch Zeit.

Nach einem erlebnis- und erfahrungsreichen Wochenende wurde am Montagabend schließlich die Heimreise angetreten. Bis zum nächsten Jahr ...

Diese Reise wurde freundlich unterstützt von Präsenz Schweiz und „swissworld – your gateway to switzerland“. Vielen Dank.

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