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10. Juni 2006: Schüssel fordert europaweites Referendum zur EU-Verfassung  

Der österreichische Bundeskanzler und derzeitige EU-Ratspräsident Wolfgang Schüssel hat am 10.06.2006 erneut seine Idee eines europaweiten, zeitgleich stattfindenden Referendums in allen 25 Mitgliedsstaaten zum Vertrag über eine Verfassung für Europa geäußert. Schüssels Vorschlag entspricht folglich einem Plädoyer für die Neugestaltung und den erneuten Beginn des Ratifizierungsprozesses. Als notwendiges Quorum für eine Akzeptanz der Verfassung sprach sich Schüssel für eine doppelte Mehrheit aus: eine Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung als auch der Mehrheit der Mitgliedsstaaten. Bisher wurde die europäische Verfassung in 15 EU-Staaten ratifiziert.  

Schüssel hatte seinen Vorstoß bereits im Juni 2005 nach den beiden erfolglosen Referenden in Frankreich (29.Mai 2005) und den Niederlanden (01.Juni 2005) zur Diskussion gestellt. Man einigte sich zunächst auf ein Jahr des Nachdenkens, um die Verfassung mit den Bürgern auf nationaler Ebene intensiver zu diskutieren. Zur Unterstützung der Kommunikation initiierte die EU-Kommission eigens ein Programm „Plan D für Demokratie, Dialog und Diskussion“.

Mit der EU-Gipfel-Konferenz vom 15./16.Juni 2006 wäre jenes Jahr offiziell beendet gewesen, jedoch forderten mehrere Regierungschefs eine Fortführung der Denkphase. So wird die EU-Verfassung unter der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 Gegenstand neuer Diskussionen und Verhandlungen sein. Deutschland soll hierbei den aktuellen Verhandlungsstand schriftlich festhalten und ein mögliches, zukünftiges Vorgehen kommunizieren. Hierbei verfügt Deutschland aufgrund der derzeitigen großen Koalition auf nationaler Ebene über den Vorteil, auf die beiden zentralen Volksparteien im EU-Parlament Einfluss bezüglich einer Konsensbildung nehmen zu können. Zeitgleich finden 2007 Präsidentschaftswahlen in Frankreich und Parlamentswahlen in den Niederlanden statt. Die zukünftige Position der Regierungen ist daher offen. Eine Entscheidung soll schließlich spätestens auf Basis eines einvernehmlich gebilligten Textes während der französischen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008 und somit vor den EU-Parlamentswahlen und dem Antritt der neuen EU-Kommission 2009 fallen.  

Der bisherige Ratifizierungsprozess wird bis dahin weitergeführt. Jener sieht als nächste Etappe die parlamentarische Abstimmung zur Verfassung im Herbst 2006 in Finnland vor. Hierzu erklärte der finnische Ministerpräsident Matti Vanhanen am 17.06.2006, dass "Finnland will, dass dieser Vertrag überlebt".  

Seit dem französischen und niederländischen Nein zur Verfassung wurde nur ein erfolgreiches Referendum in Luxemburg (10.Juli 2005) abgehalten, während andere EU-Staaten ihr konsultatives oder obligatorisches Referendum auf unbestimmte Zeit verschoben haben. Somit wurde die EU-Verfassung bisher nur noch von Staaten ratifiziert, welche in ihrer nationalen Verfassung eine parlamentarische Abstimmung hierzu vorsehen (Litauen, Ungarn, Slowenien, Italien, Griechenland, Slowakei, Österreich, Deutschland, Lettland, Zypern, Malta, Belgien, Estland).  

Mit Schüssels Vorschlag zu einer Umgestaltung des Ratifizierungsprozesses sind auch Hürden verbunden. Erstens gilt es einen geeigneten Zeitraum für eine europaweite Abstimmung zu finden, welcher sich nicht mit nationalen Wahlphasen überschneidet. Zweitens müssten die Verfassungen einiger Mitgliederstaaten geändert werden, um ein Referendum rechtlich zu ermöglichen.  

In Deutschland wäre dies durch eine Ergänzung des Artikels 23 GG mittels Abs. 1a möglich, wie es zum Beispiel als Gesetzesentwurf am 27.04.2004 durch die FDP vorgeschlagen wurde. Darin heißt es, dass ein Volksentscheid angenommen sei mit einer „Mehrheit der abgegebenen Stimmen“, wenn jene „mindestens ein Viertel der zum Bundestag Wahlberechtigten umfasst“. Der Volksentscheid ist legitim für die Zustimmung der BRD „zu einem Vertrag, mit dem eine europäische Verfassung eingeführt wird“. Weiterhin sieht die Vorlage eine an das Referendum anschließende Abstimmung des Deutschen Bundestages und Bundesrates vor, wo jeweils eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit erreicht werden müsste, um eine hinreichende Legitimation zu schaffen. Begründet wird der Antrag mit Artikel 20 Abs. 2 Satz 2 GG und Artikel 29 Abs. 2 GG. Artikel 20 GG besagt, dass die vom Volk ausgeübte Staatsgewalt „in Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt werde. Artikel 29 GG regelt bisher die einzige „Bestätigung durch Volksentscheid“ auf Bundesebene für „Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes“.  

Prinzipiell wäre auch eine langfristige Fortführung des gegenwärtigen Ratifizierungsprozesses legitim. Laut dem Vertrag über eine Verfassung für Europa (verabschiedet am 29.10.2004) besteht nämlich die Möglichkeit, die EU-Verfassung für gültig zu erklären, sobald vier Fünftel der Mitgliedsstaaten zugestimmt haben. Vorgeschlagene Änderungen seitens der „Nein“-Sager würden wiederum in einem Konvent unter dem Zuständigkeitsbereich des EU-Rates aufgegriffen und diskutiert. Jene müssen anschließend erneut in allen Mitgliedsstaaten gemäß ihrer verfassungsrechtlichen Grundlage ratifiziert werden. Für bestimmte Änderungen ist eine Mehrheit in EU-Rat und EU-Parlament ausreichend.  

Neben den prozessualen Fragen kann ebenfalls kein Konsens zum Inhalt der Verfassung beobachtet werden. Die Positionen der europäischen Regierungschefs reichen von einem Festhalten am ursprünglichen Text, einer Teilumsetzung bis zu einer kompletten Überarbeitung. So betonte Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel am 6. Juni 2006 bei einem Treffen mit dem französischen Staatspräsident Jacques Chirac in Rheinsberg: „Ein funktionsfähiges Europa braucht diesen Verfassungsvertrag. Es braucht insbesondere auch Neuregelungen, was die Institutionen anbelangt.“ Auch Schüssel erklärte am 16. Juni 2006: "Ich halte den Text für gut." Hingegen erwiderte der niederländische Europaminister Atzo Nicolai, dass sein Land eine leicht veränderte Verfassung nicht akzeptieren werde, da hiermit dem ablehnenden Wählervotum der Niederländer keine Rechnung getragen werde.

 

 

 

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